Cocain
Den Ich-zerfall, den süßen, tiefersehnten,
Den gibst Du mir: schon ist die Kehle rauh,
Schon ist der fremde Klang an unerwähnten
Gebilden meines Ichs am Unterbau.
Nicht mehr am Schwerte, das der Mutter Scheide
Entsprang, um da und dort ein Werk zu tun
Und stählern schlägt –: gesunken in die Heide,
Wo Hügel kaum enthüllter Formen ruhn!
Ein laues Glatt, ein kleines Etwas, Eben-
Und nun entsteigt für Hauche eines Wehns
Das Ur, geballt, Nicht-seine beben
Hirnschauer mürbesten Vorübergehns.
Zersprengtes Ich – o aufgetrunkene Schwäre –
Verwehte Fieber – süß zerborstene Wehr -:
Verströme, o verströme Du – gebäre
Blutbäuchig das Entformte her.

Gottfried Benn

Urs Allemann

liest

Gottfried Benn:

Urs Allemann wurde 1948 in Schlieren bei Zürich geboren. Aufgewachsen ist er in Bonn und Berlin. 1975/76 war er Redakteur der Zeitschrift Theater heute, von 1986 bis 2004 Literaturredaktor der Basler Zeitung.

 Zu Allemanns Büchern zählen die Gedichtbände Fuzzhase (1988), Holder die Polder. Oden Elegien Andere (2001) und im kinde schwirren die ahnen (2008). 2014 erhielt er für in sepps welt. gedichte und andere dinge den Schweizer Literaturpreis.

Allemann lebt in Goslar und arbeitet als freier Schriftsteller und Poesie-Performer, der eigene Werke, aber auch die von Dichtern wie Robert Walser, Ernst Jandl, Oskar Pastior und Dieter Roth vorträgt.

O Nacht -:

O Nacht! Ich nahm schon Kokain,
und Blutverteilung ist im Gange,
das Haar wird grau, die Jahre fliehn
ich muß, ich muß im Überschwange
noch einmal vorm Vergängnis blühn.
 
O Nacht! Ich will ja nicht so viel,
ein kleines Stück Zusammenballung,
ein Abendnebel, eine Wallung
von Raumverdrang, von Ichgefühl.
 
Tastkörperchen, Rotzellensaum,
ein Hin und Her und mit Gerüchen,
zerfetzt von Worte-Wolkenbrüchen -:
zu tief im Hirn, zu schmal im Traum.
 
Die Steine flügeln an die Erde,
nach kleinen Schatten schnappt der Fisch,
nur tückisch durch das Ding-Gewerde
taumelt der Schädel-Flederwisch.
 
 
 O Nacht! Ich mag dich kaum bemühn!
Ein kleines Stück nur, eine Spange
von Ichgefühl – im Überschwange
noch einmal vorm Vergängnis blühn!
 
O Nacht, o leih mir Stirn und Haar,
verfließ dich um das Tag-verblühte;
sei, die mich aus der Nervenmythe
zu Kelch und Krone heimgebar.
 
O still! Ich spüre kleines Rammeln:
Es sternt mich an – es ist kein Spott -:
Gesicht, ich: mich, einsamen Gott,
sich groß um einen Donner sammeln.
 
Gottfried Benn