Arthur Conan Doyle. Das Zeichen der Vier. Stuttgart 1904

Auch heute, als wir im Zimmer beisammen saßen, langte Sherlock Holmes die Flasche von der Ecke des Kaminsimses herunter und nahm die Induktionsspritze aus dem sauberen Lederetui. Mit seinen weißen, länglichen Fingern stellte er die feine Nadel ein, und schob seine linke Manschette zurück. Eine kleine Weile ruhten seine Augen gedankenvoll an den zahllosen Narben und Punkten, mit denen seine Handgelenke und der sehnige Vorderarm über und über bedeckt waren. Endlich bohrte er die scharfe Spritze in die Haut, drückte den kleinen Kolben nieder, und sank mit einem Seufzer innigsten Wohlbehagens in seien samtenen Lehnstuhl zurück.

Seit vielen Monaten hatte ich diesen Hergang täglich dreimal mit angesehen, ohne mich jedoch damit auszusöhnen. Im Gegenteil, Tag für Tag steigerte ich mein Verdruß bei dem Anblick, und in der Nacht ließ mir der Gedanke keine Ruhe, daß ich zu feige war, dagegen einzuschreiten. So oft ich mir aber vornahm, meine Seele von der Last zu befreien, immer wieder erschien mir mein Gefährte, mit der kühlen, nachlässigen Miene, als der letzte Mensch, dem gegenüber man sich Freiheiten herausnehmen dürfe. Seine großen Fähigkeiten, die ganze Art seines Auftretens, die vielen Fälle, in denen er seine außerordentliche Begabung schon vor mir betätigt hatte – das alles machte mich ihm gegenüber ängstlich und zurückhaltend.

Aber an diesem Nachmittag fühlte ich plötzlich, daß ich es nicht länger aushalten könne. Der starke Wein, den ich beim Frühstück genossen, mochte mir wohl zu Kopf gestiegen sein, vielleicht hatte mich auch Holmes` umständliche Manier ganz besonders gereizt.

„Was ist denn heute an der Reihe“, fragte ich kühn entschlossen, „Morphium oder Cocain?“

Er erhob die Augen langsam von dem alten Folianten, den er aufgeschlagen hatte. „Cocain“, sagte er, „eine Lösung von sieben Prozent. Wünschen sie es zu versuchen, Doktor Watson?“ „Wahrhaftig nicht“, antwortete ich ziemlich barsch. „Ich habe die Folgen des afghanischen Feldzugs noch nicht verwunden und kann meiner Konstitution dergleichen nicht zumuten.“

Er lächelt über meine Heftigkeit. „Vielleicht haben sie Recht, der physische Einfluß ist vermutlich kein guter. Ich finde aber die Wirkung auf den Geist so vorzüglich anregend und klärend, daß alles andere dagegen von geringem Belang ist.“

„Aber überlegen sie doch“, mahnte ich eindringlich, „berechnen sie die Kosten! Mag auch ihre Hirntätigkeit belebt und erregt werden, so ist es doch ein widernatürlicher, krankhafter Vorgang, der einen gesteigerten Stoffwechsel bedingt und zuletzt dauernde Schwäche zurücklassen kann. Auch wissen sie ja selbst, welche düstere Reaktion sie jedesmal befällt. Wahrlich, das Spiel kommt sie hoch zu stehen. Um eines flüchtigen Vergnügens willen setzten sie sich den Verlust der hervorragenden Fähigkeiten aus, mit denen sie begabt sind. Ich sage ihnen das nicht nur als wohlmeinender Kamerad, sondern als Arzt, da ich mich in dieser Eigenschaft gewissermaßen für ihre Gesundheit verantwortliche fühle. Bedenken sie das wohl!“

Er schien nicht beleidigt. Seine Ellenbogen auf die Armlehnen des Stuhls stützend, legte er die Fingerspitzen gegeneinander, wie jemand, der sich zu einem Gespräch anschickt. „Mein Geist“, sagte er, „empört sich gegen den Stillstand, geben sie mir ein Problem, eine Arbeit, die schwierigste Geheimschrift zu entziffern, den verwickeltsten Fall zu enträtseln. Dann bin ich im richtigen Fahrwasser und kann jedes künstliche Reizmittel entbehren. „Aber ich verabscheue das nackte Einerlei des Daseins; mich verlangt nach geistiger Aufregung. Das ist auch die Ursache, weshalb ich mir einen eigenen, besonderen Beruf erwählt oder vielmehr geschaffen habe; denn ich bin der Einzige meiner Art in der Welt.“